Grenzen und Gefahren des ‚Positiven Denkens‘

Ich will meine Bedenken gegen die Technik die ‚Positiven Denkens‘ am Beispiel Blockaden darlegen.

Viele Menschen erreichen ihre Ziele nicht, weil sie eine Blockade haben. Blockaden kann man an dem Wort aber erkennen. Man will etwas tun, aber je mehr man sich anstrengt, desto weniger funktioniert es. Was kann man tun, wenn man eine Blockade hat?

In dieser Frage steckt ein entscheidender Denkfehler. Wenn ich von einer Blockade spreche, behandle ich etwas, das ich tue, wie ein Ding. Diese Verdinglichungen sind in unserer Sprache weit verbreitet. Ein Rockmusiker sagte nach einer Herzattacke: „Bei den Plattenaufnahmen gibt es halt so eine Sauferei.“ Bei Verdinglichungen behandelt man etwas, das man tut, wie einen Gegenstand. Was ich tue, liegt außerhalb meiner Verantwortung, ist unveränderlich, ist quasi zu Eis erstarrt. Die Lösung ist, die Verdinglichung wieder in ein Verb, ein Tätigkeitswort, umzuwandeln. Statt zu sagen, es gibt eine Sauferei, sagt man: „Ich trinke zu viel Wodka“. Wie kann man die Verdinglichung in dem Satz „ich habe eine Blockade“ auflösen? Wenn ich sage „ich blockiere mich“ ist die Verdinglichung aufgelöst.

Was passiert eigentlich, wenn ich mich blockiere? Es handelt sich um einen inneren Konflikt. Zwei innere Anteile behindern sich gegenseitig. Was kann man bei inneren Konflikten tun? Ich will zuerst betrachten, wie man äußere Konflikte lösen kann. Konflikte löst man am besten, indem man die Wünsche von allen Beteiligten herausfindet und nach Möglichkeiten sucht, bei denen alle Seiten gewinnen. Man nennt diese Methode das Gewinner/Gewinner-Modell oder Win-Win.

Es gibt eine Technik aus dem NLP, dem Neurolinguistischen Programmieren, innere Konflikte wie äußere Konflikte zu lösen. Ich nenne diese sonst Visual Squash genannte Technik das Versöhnungsmodell. Um diese Methode anzuwenden, sind zusätzliche Informationen nötig. Wenn Sie damit arbeiten wollen, können Sie zu einem erfahrenen NLP - Master, Coach oder Trainer gehen.

Bei dem Versöhnungsmodell trennt man die in dem Konflikt beteiligten Anteile voneinander, fragt sie, was sie für die Person erreichen wollen und begleitet sie zu einer Versöhnung. Wenn man so die Blockade auflöst, kommt die Lebensenergie wieder in Fluss. Innere Konflikte können zum Beispiel ein Kampf zwischen Verstand und Gefühlen, einem friedlichen und einem gewalttätigen Anteil oder zwischen prüde und sexuell ausschweifend sein.

Wie Kampf gegen sich selbst gewinnen?

Während man bei einem äußeren Konflikt die Beziehung abbrechen kann, ist dies bei einem inneren Konflikt nicht möglich. Man kann sich nicht von einem Anteil seiner Persönlichkeit verabschieden, ihn nicht auf Dauer unterdrücken oder ignorieren. Man kann jemanden, der von einem inneren Konflikt blockiert wird, mit einem Autofahrer vergleichen, der gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse tritt.

Kennen Sie die Geschichte von dem alternden Boxchampion, der seinen Manager darum bat, gegen Jack den Schrecklichen zu kämpfen? Sein Manager riet ihm ab. Der Boxer bettelte: „Ich will nur einmal gegen Jack, den Schrecklichen antreten!“ Der Manager schüttelte den Kopf. Der Boxer bettelte weiter: „Aber warum kann ich denn nicht gegen Jack, den Schrecklichen antreten, es ist mein größter Wunsch!“ Der Manager seufzte und sagte: „Wie oft muss ich es dir noch sagen, du kannst nicht gegen Jack den Schrecklichen antreten, weil du Jack der Schreckliche bist!“

Statt Bürgerkrieg

Wenn manche Leute von sich selbst sprechen, hört sich das an wie ein Bericht über einen Bürgerkrieg. Sie sagen Sätze wie: „Man muss den inneren Schweinehund überwinden, man muss sich zwingen, sich in den Hintern treten, sich im Griff haben, sich überwinden“. Wie sprechen Sie mit sich selbst, über Ihren Körper, Ihre Gefühle und Ihre Schwächen? Wie gehen Sie mit sich um? So liebevoll und respektvoll wie mit anderen Menschen? Jesus hat gesagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Viele verstehen diesen Satz so, dass man sich zwingen soll, seine Mitmenschen zu lieben. Ich denke, dieser Satz meint auch, dass es günstig ist, zuerst mit sich selbst ins Reine zu kommen. Wer sich selbst verachtet und hasst, wird seine Mitmenschen verachten und hassen, wenn er sie „liebt wie sich selbst“.

Wer mit sich selbst im Kampf ist, verschwendet Energie. Wenn ich versuche, einen Anteil von mir auf Dauer zu unterdrücken, wird sich der Anteil wehren, indem er mich sabotiert.

Veränderung durch annehmen

Es wirkt absurd: Wer sich ändern will, bleibt oft stecken. Wenn man versucht, sich zu ändern, indem man ungeliebte Anteile seiner Person unterdrückt, werden diese Anteile die Veränderung blockieren oder sabotieren. Wer sich dagegen so annimmt, wie er ist, mit seinen kleinen Fehlern und Schwächen, seine ungeliebten Anteile akzeptiert und annimmt, kommt in Einklang mit sich selbst, die Selbstheilungskräfte werden aktiv, die Anteile arbeiten zusammen und die ganze Energie geht in eine Richtung. Wenn man ungeliebten Anteile integriert, gewinnt man Bündnisgenossen. So verändert man sich wie von allein, kommt mit sich selbst und der Welt ins Reine. Paradoxerweise ändern wir uns, wenn wir uns so, wie wir sind, annehmen.

Annehmen bedeutet nicht unbedingt ausleben

Seine ungeliebten Anteile anzunehmen, bedeutet nicht unbedingt, sie auch auszuleben. Annehmen eines gewalttätigen Anteils bedeutet nicht, seiner Schwiegermutter den Garaus zu machen. Man kann die Kraft eines gewalttätigen Anteils etwa dazu nutzen, um Judo zu lernen.

Heilend

Die Versöhnung der inneren Anteile wirkt heilend. Wissen Sie, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Heilen ist? Heilen bedeutet ganz machen. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Heilen kommt in dem Satz vor: „Das Glas ist heil geblieben.“ Viele Krankheiten ähneln einem Kampf des Organismus gegen sich selbst. Bei AIDS kämpft das Immunsystem gegen sich selbst.

Nonverbales Verhalten

Innere Konflikte drücken sich im nonverbalen Verhalten aus. Wenn jemand mit sich selbst im Zwiespalt steht, drücken Stimme und Körpersprache etwas anderes aus als die Worte. Er sagt zum Beispiel mit zorniger Stimme und erhobener Faust: „Ich bin für den Frieden!“ Wenn Sie mit sich in Harmonie sind, ist Ihre Kommunikation kongruent, das heißt, Ihre verbale und nonverbale Kommunikation stehen im Einklang. Wer mit sich im Reinen ist, besitzt Autorität, Charisma, eine innere Ruhe und Kraft, die man nicht einstudieren kann. Er besitzt Enthusiasmus, weil seine ganze Person hinter seinen Zielen steht. Wer seine Persönlichkeitsanteile angenommen und integriert hat, ist integer und authentisch.

Innere und äußere Konflikte beeinflussen sich

Innere und äußere Konflikte sind oft zwei Seiten einer Medaille. Wer mit sich selbst im Einklang ist, kann andere so annehmen, wie sie sind. Oft ärgern uns gerade die Eigenschaften an anderen, die wir an uns selbst nicht mögen. Wenn man seine inneren Konflikte löst, verschwinden oft äußere Konflikte.

Meine Kritik am ‚Positiven Denken‘

Ich komme nun zu meiner Kritik am ‚Positiven Denken‘. Die Anhänger des ‚Positiven Denkens‘ behaupten, dass man mit Hilfe von positiven Affirmationen und Visualisierungen das Unbewusste beeinflussen kann. Wer Erfolg haben will, muss sich immer wieder sagen „ich habe Erfolg“ und sich den Erfolg bildlich vorstellen. Bekannte Vertreter des ‚Positiven Denkens‘ sind Joseph Murphy und Eberhard Freitag. Ich denke, dass das ‚Positive Denken‘ momentan weltweit die am weitesten verbreitete Ideologie ist.

Das ‚Positive Denken‘ kann wirken, wenn man keine inneren Konflikte hat. Wenn man einen inneren Konflikt hat, wird er durch das ‚Positive Denken‘ verstärkt. Ein Beispiel: Ein Anteil will Erfolg, ein anderer hat Angst davor. Die Vertreter des ‚Positive Denkens‘ wollen den Anteil, der Erfolg will, bestärken. Dies führt dazu, dass der Anteil, der Angst hat, umso mehr blockiert. Der Anteil, der Angst hat, will zum Beispiel für Sicherheit, für die Gesundheit und die Familie sorgen. Ich erlebe in meinen Beratungen immer wieder, dass die Energie wieder in Fluss kommt, wenn man den ungeliebten Anteil annimmt.

Selbstbewusstsein durch Autosuggestionen

Viele Menschen wollen ihr Selbstbewusstsein stärken, indem sie CDs mit Suggestionen anhören wie „ich bin selbstbewusst“. Ich bin da skeptisch. Wer sein Selbstbewusstsein auf diese Weise stärken will, hypnotisiert sich selbst. Oft glaubt er wirklich an die Suggestionen. Aber dieser Glaube bleibt oft eine Illusion, besitzt keine Wurzeln. Wer sich dagegen mit sich selbst versöhnt, bekommt ein tiefes Selbstbewusstsein, das von innen kommt und nicht künstlich aufgeputscht ist. Was bedeutet eigentlich das Wort Selbstbewusstsein? Für mich bedeutet es, sich seiner selbst bewusst zu sein, mit allen seinen Persönlichkeitsanteilen.

Es gibt Gruppen, bei denen die Teilnehmer dazu aufgefordert werden, über glühende Kohlen zu laufen. Wenn die Leute dies geschafft haben, wird ihnen gesagt, dass sie alles schaffen können, was sie wollen. Ich halte wenig von solchen Übungen. Zum einen kann jeder über glühende Kohlen laufen. Das ist physikalisch erklärbar. Entscheidend ist nämlich nicht die Temperatur, sondern die Leitfähigkeit von glühender Kohle und von Fußsohlen und wie lange sich Haut und Kohle berühren. Zum anderen sehe ich die Gefahr, dass Trainer ihre Teilnehmer durch solche „Wunder“ von sich abhängig machen. Sie suggerieren damit, dass sie Wunder tun können und dass man ihnen deshalb alles zu glauben habe. Vor allem finde ich bedenklich, Leute glauben zu machen, sie könnten alles. Es gibt schon genug Menschen, die zwischen Phasen der Depression und Phasen der Selbstüberschätzung hin und her schwanken. Man braucht dies nicht noch durch überzogene Suggestionen zu fördern. Wer glaubt, alles zu können, überschätzt sich oft selbst. Er steigt dann ohne Erfahrung, Training und Kondition auf den Mont Everest. Es gibt mindestens genauso viele Menschen, die sich selbst überschätzen, wie Menschen, die sich unterschätzen. Wenn 100 Meter vor dem Gipfel des Mont Everest plötzlich ein Sturm aufzieht, ist es besser, auch einmal aufzugeben.

Willenskraft

Wer mit Willenskraft ein Ziel zu erreichen versucht, wenn Anteile seiner Persönlichkeit Einwände gegen die Erreichung des Ziels hat, vergeudet seine Kraft. Das erinnert mich an einen Freund, der meint: „Ich habe einen starken Willen. Mein Problem ist nur, dass ich nicht weiß, was ich will.“

Eine lebensbejahende Grundeinstellung ist wünschenswert, nur wie erreicht man sie? Ich bezweifle, dass man sie erreicht, indem man sich zwingt, positiv zu denken. Es reicht nicht, einen Wasserhahn in die Wüste mitzunehmen, um für Wasser zu sorgen.

Druck, nur positiv zu denken, führt oft zu negativem Denken

Wenn man jemanden zu etwas zwingt, erreicht man oft das Gegenteil. Mütter, die ihren Kindern etwas befehlen, können davon ein Lied singen. Unser Unbewusstes lässt sich auch nicht gerne sagen, was es zu tun oder zu glauben hat und reagiert oft wie ein trotziger Junge, der das Gegenteil von dem tut, was man von ihm verlangt. Wenn man dem Unbewussten immer wieder einhämmert, positiv zu denken, führt das oft zum Gegenteil.

Was ist positiv?

Wer das ‚Positive Denken‘ propagiert, begibt sich auf das tückische philosophische Glatteis, zu bestimmen, was überhaupt positiv ist. Bei der Suche nach einer Lösung dieser Frage haben sich Moraltheologen Jahrhunderte lang gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und sind zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen.

Es gibt nicht nur gut und schlecht

Unsere Sprache führt uns mit ihrer Unterscheidung zwischen gut und schlecht in die Irre. In der „Realität“ gibt es nicht nur die beiden Extreme, es gibt viele Zwischentöne zwischen Gut und Schlecht.

Das ‚Positives Denken‘ will nur einen Teil

Die Hauptproblematik des ‚Positiven Denkens‘ liegt darin, dass es nur einen Teil einer Person und des Lebens annehmen will. Zum Leben gehören alle Seiten, nicht nur die ‚positiven‘. Wenn wir nur Sonnenschein haben wollen, werden wir verdursten.

Gerade die ‚negativen‘ Gefühle wie Trauer, Einsamkeit, Nachdenklichkeit und Müdigkeit gehören auch zum Leben, sie geben dem Leben Farbe und Tiefe. In der Natur gibt es auch Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod. Wenn jemand nur eine Seite haben will, wird sein Leben verflachen, oder die ungeliebte Seite wird sich eines Tages mit Gewalt zu Wort melden, durch eine Krankheit oder einen Unfall.

Das Leben und seine Person ganz annehmen, nicht nur die ‚positiven Anteile‘

Die Lösung liegt für mich in einem ganzheitlichen Denken und Fühlen, das das Leben in all seinen Erscheinungsformen annimmt, in Leben und Tod, Freude und Tränen, Ekstase und Trauer.

Man kann sich selbst annehmen, mit seinen kleinen Schwächen. Auch sich selbst annehmen, wenn man einmal negativ denkt. Diese Einstellung ist wirklich lebensbejahend.

Wechsel zwischen guten und schlechten Tagen macht das Leben interessant

Gefühle kann man nur in ihrem Wechsel wahrnehmen, ein ständiges Glücksgefühl würde abflachen. Gerade der Wechsel macht das Leben interessant und lebenswert. Ich halte es für eine Illusion, ein Leben ohne Probleme und ohne unangenehme Gefühle zu erstreben. Das Ziel von Therapie ist für mich nicht, Menschen ohne Probleme zu schaffen. Für mich bedeutet Therapie, Menschen zu unterstützen, ihre Probleme zu lösen oder zu lernen, mit ihnen zu leben.

Rosarote Brille

Es hilft wenig, die Realität durch eine rosarote Brille zu betrachten. Einige Funktionäre in der DDR haben wirklich geglaubt, in einem sozialistischen Paradies zu leben. Genutzt hat das wenig. Letztlich wurden sie von der Realität eingeholt. Ich bin aber auch nicht dafür, alles schwarz zu sehen.

Glas Wasser halb voll

Berühmt ist das Beispiel, dass man ein Glas Wasser als halb leer oder als halb voll bezeichnen kann und damit seine Wahrnehmung ändert. Was den Anhängern des ‚Positiven Denkens‘ meist nicht bewusst ist, dass es manchmal auch angemessen ist, die ‚negative‘ Seite wahrzunehmen. Ein Beispiel: Eine Prostituierte meinte in einem Interview, sie verkaufe nicht ihren Körper, sondern nur ihre Zeit. Hier kann man antworten: „Ja, Sie verkaufen nur Ihre Zeit, nur Ihr Leben“.

Das Unbewusste dressieren?

Das ‚Positive Denken‘ besitzt ein ziemlich naives Verständnis des Unbewussten. Es glaubt, man müsse dem Unbewussten nur oft genug sagen, woran es zu glauben habe, und dann würde es schon folgen. Durch positive Suggestionen soll das Unbewusste programmiert werden, dressiert wie ein Papagei. Die unausgesprochene Vorannahme dahinter ist, dass das Unbewusste dumm und ungezogen ist.

Im NLP, wie es etwa Robert Dilts vertritt, werden dagegen die Selbstheilungs- und Selbstregulierungskräfte des Unbewussten unterstützt. NLP hat großes Vertrauen in die Kraft und die Weisheit des Unbewussten.

Ein Mittel für alles und jeden?

Ich bin skeptisch, wenn ein Arzt für alle Menschen und alle Krankheiten nur eine Medizin verordnet. Das ‚Positiven Denken‘ hat für jeden Menschen und alle Probleme nur ein Rezept.

Anhänger des ‚positiven Denkens‘ üben Macht aus

Wenn ein Anhänger des positiven Denkens jemandem sagt, „du schaffst das, du bist stark und intelligent“, übt er damit subtil Macht aus. Der Andere kann befürchten, dass irgendwann diese Aussage wieder zurückgenommen wird. So kann man Menschen abhängig machen. Wenn ich dagegen frage, „können Sie sich an einen Moment in Ihrem Leben erinnern, als Sie etwas geschafft haben, als Sie stolz auf sich waren?“ kommen Sie in einen Zustand der Stärke, den Ihnen niemand wieder wegnehmen kann, selbst ich nicht.

Dieser Artikel ist ein überarbeiteter Auszug aus meinem Buch Neue Lebensperspektiven. Erfolg und Lebensfreude mit NLP, BoD Verlag. Die 1. Auflage erschien im Junfermann Verlag.